Der Wind trieb längst tote Blätter die schmale Gasse hinunter, hob sie sanft in die Luft und ließ sie tanzen. Auf eine morbide Art und Weise glichen sie jungen Schmetterlingen, die gerade erst der Enge ihrer Kindheit entschlüpft waren. Taumelnd erreichten sie eine kleine Wiese, die an ein verwittertes Backsteingebäude grenzte und ließen sich entkräftet fallen. Das Gras lag bereits im Sterben und die Herbstzeitlosen schmückten bereits das Grab des vergangenen Sommers. Ein dichter Teppich aus Efeu und Knöterich bedeckte das alte Gemäuer fast vollständig und nur vereinzelt blinzelte zerbrochenes Glas zwischen Brettern und Efeu hindurch. Die Strahlen der Sonne verrieten das Versteck der Fenster und wenn man genau hinsah, konnte man fast die Eile spüren, mit der man die Fenster einst vernagelt hatte. Der hohe Schornstein ragte aus dem löchrigen Dach, dessen Schindeln förmlich mit dem Knöterich zu einer undurchdringlichen Einheit verwachsen waren. Auf dem Schornstein hatten bereits vor einigen Jahren eifrige Schnäbel ein kunstvolles Nest gebaut. Den jungen Schwarzstörchen diente das gepolsterte Dach als eine wunderbare Startbahn in ihr neues Leben.
Wie ein undurchdringliches Bollwerk umgab eine Mauer aus Natursteinen das Anwesen und schützte es vor neugierigen Blicken.
Eine Feldmaus huschte an der Mauer entlang und verschwand blitzschnell in der Mauer. Hinter einem dicken Vorhang aus Efeuranken hatte der Zahn der Zeit einige Steine aus der Mauer genagt und gewährte so dem winzigen Besucher den Zugang zum Haus. Hinter der Mauer räkelte sich ein Urwald aus Brombeeren bereits die Treppenstufen bis zur Eingangstür hinauf. Fast schien es, als wollten die vorwitzigen jungen Triebe der Brombeeren die rostige Türklinke herunterdrücken, um auch das Innere des Hauses zu besetzen.
Das alte Messingschild hing schief an der Tür und schaukelte an einem letzten rostigen Nagel sanft hin und her. Die Buchstaben waren bereits vollständig unter einer dicken Schicht aus Grünspan, Schmutz und Zeit verschwunden und der einst so glanzvolle Name war längst vergessen. Wie ein Geist der Vergangenheit huschte die Feldmaus die Treppen hinauf, verschwand durch ein Loch in der Tür und tauchte kurz darauf wieder auf der obersten Stufe auf. Der Wind wirbelte die trockenen Blätter der Brombeerranken durcheinander und gab den Blick auf ein Loch in der Hauswand frei, das vermutlich einst als Kellerfenster gedient hatte. Dort hatte man scheinbar vergessen den Zugang mit Brettern zu versperren und man konnte fast ungehindert in den staubigen Keller blicken. Mit Laken und Tüchern verhüllte Möbel stapelten sich dort wie gespenstische Bauklötze zu schiefen Bauwerken. Zwischen schiefen Türmen und schweren Holzkisten stand verborgen in einer Ecke, eine kunstvoll verzierte Kleidertruhe. Der schwere Deckel war geöffnet und aus ihrem Inneren ergoss sich ein Meer aus elfenbeinfarbenem Stoff auf den schmutzigen Kellerboden.
Generationen eifriger Feldmäuse nagten daran und verwandelten mit dieser Beute ihre Nester in nahezu königliche Behausungen. Die Sonne legte ihr Licht durch das winzige Kellerfenster direkt auf den Stoff und verwandelte den verstaubten Haufen in ein funkelndes Meer aus Perlen und Silberfäden, in dem die Vergangenheit zum Leben erwacht.
Schwarz wie poliertes Ebenholz fielen die dicken Locken über zarte nackte Schultern und feinen Stoff, der mit Silberfäden durchzogen war. Lachend drehte sich die junge Frau im Sonnenlicht und starrte ungläubig auf ihr Spiegelbild. Hunderte Perlen schmiegten sich in den weichen Stoff und schienen über funkelnden Wellen aus reinstem Silber zu schweben. Nie zuvor hatten ihre Augen ein solches Kleid gesehen und doch trug sie es nun auf ihrer sonnengebräunten Haut. Ihre braunen Augen funkelten mit dem Kleid um die Wette und die Zofe zupfte lächelnd die letzten Haarsträhnen zurecht. So lange war sie nun schon im Dienst des Herrn und hätte nie gedacht, ihn noch einmal glücklich zu sehen.
Vor Jahren hatte ihm dieser verfluchte Reitunfall sein Augenlicht und jegliche Lebensfreude geraubt. Düster war es im Haus geworden und das Leben kroch seit jenem Tag schwer und unheilvoll an ihnen allen vorüber. Der Hengst des Herrn stand noch immer im Stall und wartete auf seinen Tod. Dieser Tod sollte in Gestalt eines Jägers über ihn kommen, schnell und mit scharfer Klinge.
Nun zupften die zitternden Finger der Zofe noch ein letztes Mal den Stoff zurecht und strichen sanft durch das dichte Haar der jungen Frau. Dieses Haar glich der Mähne eines Pferdes und war ebenso wenig zu bändigen wie der Hengst des Herrn. Nur ein paar Stunden zuvor stand der Herr des Hauses auf seinen Stock gestützt vor dem Stall. Er wollte den Hengst sterben hören, wollte das Geräusch auskosten, wenn das pulsierende Leben aus seinem Körper wich. Er hasste ihn aus der Tiefe seine Seele für alles, was er ihm genommen hatte. Das Geräusch der Klinge, die aus der Lederscheide gezogen wurde, lenkte seine Aufmerksamkeit in die Richtung des Jägers und er schloss seine blinden Augen.
Wenn der Hengst sein Leben verlor, würde er vielleicht endlich seines zurückgewinnen, zumindest einen Teil seines inneren Friedens. Unruhig begann der Hengst mit den Hufen zu scharren und schnaubte nervös, als der Jäger sich ihm näherte. Seine Hände verkrampften sich um den verhassten Stock und sein Herz schlug plötzlich viel zu schnell in seiner Brust. Plötzlich ertönte das leise Trippeln nackter Füße auf dem Stallboden, Haare streiften seine Wange und der Geruch von wildem Salbei zog an ihm vorüber. Der Jäger fluchte leise und die Antwort war ein wüster Fluch, der niemals zu dieser sanften Stimme passen konnte. Er stand ganz still und lauschte der Stimme, die nun wie tausend Silberglöckchen durch den Stall zog. Sie musste die Tochter des Jägers sein und es schien, als wolle sie den Hengst vor seinem sicheren Tod retten. Entschlossen trat er einen Schritt vor und streckte suchend die Hände nach vorne.
Dichtes Haar legte sich um seine Finger und Stille legte sich auf den Stall. Eine kleine kräftige Hand ergriff seine und zog ihn mit sich. Seine Gegenwehr wurde sanft ignoriert und er folgte ihr zögernd ein paar Schritte. Er spürte einen warmen Atemhauch an seiner Wange und etwas schmiegte sich wunderbar weich an sein Gesicht.
Sein Körper erstarrte, als der Hengst sanft in sein Ohr schnaubte. Die kleine Hand hielt ihn noch immer fest und führte seine zitternde Hand nun an den warmen Hals des Pferdes. Wieder spürte er Haar an seinen Fingern und es war ihm unmöglich zu sagen, ob es die Mähne des Hengstes, oder das Haar des Mädchens war. Sie summte leise ein altes Wiegenlied und ihre Stimme legte sich wie ein heilender Umschlag über den Hengst und seinen Herrn. Er vergrub seine Hände in der dichten Mähne und sein Gesicht lag auf dem warmen Hals des stolzen Tieres. Er weinte und mit jeder Träne verließen Wut und Hass seine Seele. Sie machten Platz für das Leben, das nun endlich wieder zu ihm zurückkehrte.
Glücklich lächelnd nahm die Zofe den Blütenkranz aus dem Weidenkorb und setzte ihn behutsam auf die schwarze Haarpracht.
Eine Träne entwich ihren Augen, fiel auf den weichen Stoff, rollte einen Silberfaden entlang und fädelte sich zwischen all den Perlen ein. Die junge Frau warf einen letzten Blick in den Spiegel und wurde durch das freudige Wiehern eines Pferdes aus den Gedanken gerissen. Ihr Herz war voller Liebe und ihre Augen strahlten wie die Sonne, als der Knecht ihr in den Sattel half. Das Fell des Hengstes glänzte und er tänzelte nervös unter all dem raschelnden Stoff. Doch die junge Frau hielt die Zügel fest in ihren Händen und trieb in voran. Seine Hufe trommelten im Einklang mit ihrem Herzen und auf dem Hügel konnte sie bereits ihren geliebten Ehemann zwischen all den Menschen sehen. Stolz und glücklich stand er dort und erwartete die Frau, die sein Herz mit so viel Liebe füllte und die sich in den Kopf gesetzt hatte, auf dem Hengst zu ihm zu reiten. Dieser trabte nun mit großen Schritten auf ihr Glück zu und alle Augen lagen auf der Braut und dem schwarzen Hengst.
Die Kurzgeschichte "Sonne im Herbst" war Teil meiner letzten Aufgabe im Studium und hat mir eine Bestnote eingebracht, obwohl sie eigentlich gegen so ziemlich alle Regeln der Kurzgeschichten verstößt. Manchmal muss man neue Wege beschreiten um das zu finden, was man sucht...ch umkippte und die Flammen der Kerzen sich mit dem Wachs auf die Tischdecken ergossen. Sie alle sahen jedoch deutlich die Flammen in den panischen Augen des Hengstes aufblitzen, der panisch nach einem Ausweg suchte. Sie alle sahen ihn davon stürmen, sahen den Blütenkranz zu Boden fallen. Zwischen all den schreienden nMenschen stand ein Mann, der ihr Haar ins Gras fallen hörte, als das geliebte Herz für immer verstummte.
Die Sonne zog unaufhaltsam weiter in ihrer Bahn und der hohe Schornstein warf bereits einen langen Schatten in das Brombeermeer. Die Mäuse trugen ein weiteres Stück Stoff in ihre geheimen Nester und oben auf dem Schornstein erhob sich der letzte Jungstorch aus dem sicheren Nest.
Die Kurzgeschichte "Sonne im Herbst" war Teil meiner letzten Aufgabe im Studium und hat mir eine Bestnote eingebracht, obwohl sie eigentlich gegen so ziemlich alle Regeln der Kurzgeschichten verstößt. Manchmal muss man neue Wege beschreite um das zu finden, was man sucht...
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