Endlich sah er zwischen all dem Grün um ihn herum einen blutroten Farbtupfer aufleuchten. Fast eine Stunde lang war er durch den Park gerannt und nun folgte Ben erleichtert diesem flatternden Signalfeuer, das ihn direkt zu Aya führen würde. Noch nie hatte er sie ohne diesen Schal gesehen, dessen Farbe ein seltsam besonderes Rot war, ein Rot das ihr blasses Gesicht nahezu durchsichtig erscheinen ließ.
Aya saß auf einer der alten Bänke und ihre Körperhaltung verriet ihm sofort dass sie weinte. Er lief etwas schneller, denn sie so zu sehen brach ihm fast das Herz und er hasste seine Eltern in diesem Moment für jedes ihrer Worte. Ben rief ihren Namen und rannte das letzte Stück auf sie zu.
„Aya! Es tut mir so leid was passiert ist.“
Nervös zupfte er an ihrem Schal und hoffte, dass sie ihm seine Lüge verzeihen konnte. Er war so voller Freude gewesen sie wiederzusehen, dass er einfach keine Absage riskieren wollte. Nur aus diesem Grund hatte er seinen Eltern ihre Ankunft verschwiegen und nur aus diesem Grund hatte er Aya in dem Glauben gelassen, sie sei willkommen. Er hatte einfach viel zu lange auf diesen Tag gewartet, doch nun war sie hier und die Begegnung mit seinen Eltern war zu einer völligen Katastrophe eskaliert. Sie hob den Kopf und schaute ihn aus verweinten Augen mit vorwurfsvollem Blick an. „Du hast mich belogen! Ben, was soll ich denn jetzt machen?“ Erneut begannen ihre Augen sich mit Tränen zu füllen und sie vergrub das hübsche Gesicht in ihrem Schal, dessen rote Wellen sich sofort an ihre Wange schmiegten. Ben ergriff ihre Hand und zog ein sauberes Stofftaschentuch aus seiner Tasche. „Ich bring das wieder in Ordnung, versprochen! Nicht weit von hier ist eine Jugendherberge, in der ein Freund von mir manchmal aushilft. Da kannst du sicher eine Nacht bleiben und ich werde mir eine Lösung einfallen lassen.“ Aya nickte nur und griff schweigend nach ihrem Koffer. Ben war jedoch schneller und nahm ihr den Koffer aus der zierlichen Hand. Er rief seinen Freund an und brachte Aya zur Jugendherberge. Auf dem Weg dorthin legte er sich bereits einen Plan zurecht, der seine Eltern eventuell umstimmen konnte. Ihr süßer Kuss zum Abschied spornte seinen Kampfgeist an und er erreichte das Haus seiner Eltern voller Wut und wild entschlossen sie umzustimmen. Seine Mutter erwartete ihn bereits in der Küche und er sah die Erleichterung in ihren Augen, als er allein den Raum betrat. „Aya kann mein Zimmer allein bewohnen, oder sogar eins der Gästezimmer benutzen. Was ist so falsch daran, dass ich sie eingeladen habe?“ Sie warf theatralisch ihr Haar nach hinten und Ben wusste, dass nun ein harter Kampf vor ihm lag. „Du bist viel zu jung um das zu verstehen, sie sucht doch sicher nur eine gute Partie zum Ausnutzen!“ Ben funkelte seine Mutter nun wütend an. „Max hat immer wieder Freundinnen hier und niemals hast du ein solches Drama daraus gemacht. Er ist eben der Liebling, der seine Wünsche erfüllt bekommt noch bevor er sie ausspricht! Predigst du nicht immer auf deinen Wohltätigkeitsveranstaltungen von Gastfreundschaft und diesen Dingen die für dich nur leere Worte sind?“ Nun hatte Ben ihren wunden Punkt getroffen und ihre Stimme begann zu einem schrillen Geschrei zu werden. „Sie wird dir ein Kind andrehen oder die Villa auskundschaften, um uns später auszurauben! Man kann diesen Asiaten nicht trauen und was deinen Bruder angeht, Max bringt ausschließlich deutsche Mädchen nach Hause!“ Ben spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg und drehte seiner Mutter angewidert den Rücken zu. „Ihr seid es doch gewesen, die mir immer wieder gesagt haben, wie wichtig es ist Verantwortung zu übernehmen.“ Er verließ das Zimmer, bevor sie noch weitere Dinge sagen konnte, die er ihr niemals vergeben würde. Geduldig wartete Ben, bis alle im Haus eingeschlafen waren und schlich ins Arbeitszimmer seines Vaters. Er kannte das Versteck unter der Schreibtischplatte und zog den kleinen Schlüssel lautlos hervor. Nur ein paar Minuten später verschwand er mit einer großen Summe Bargeld und der Kreditkarte seines Vaters im Rucksack, in der Dunkelheit des weitläufigen Gartens. Auf dem Weg zur Herberge nutzte er die Karte und sein Handy um zwei Flugtickets zu buchen und rief Aya an. Als er das Tor zur Jugendherberge erreichte, sah er im trügerischen Schein der Laterne zwei rote Flügel auf ihrem Rücken schlagen.
Der rote Schal ihrer Mutter und der sanfte Wind, der den Geruch nach Wasser von der Norderelbe herantrug, schienen ihr Flügel zu verleihen in dieser Nacht. Wieder nahm er ihren Koffer und trug ihn zum Taxi, dass bereits an der Ecke auf sie wartete. Sie wirkte nervös und ängstlich, blickte sich immer wieder suchend um. Erst im Flugzeug lehnte sie sich endlich entspannt an seine Schulter und schlief bis zur ersten Zwischenlandung in London.
Ben hatte keine Ahnung was sie in Japan erwartete, aber zurück nach Hause erschien ihm unmöglich. Der Flug nach Tokyo verlief ruhig und immer wieder schlief Aya an seiner Schulter ein. Dann wickelte er den roten Schal mit einer ihrer langen Haarsträhnen um seinen Finger und lächelte. Von Tokyo aus ging es weiter nach Osaka und auch dieser Flug verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Aya wurde jedoch immer unruhiger, redete kaum noch und verknotete den roten Schal immer wieder mit ihren zitternden Fingern.
Sie erreichten das Gate und Ben sah Ayas Onkel Masahiro bereits mit wütenden Gesten auf sie zukommen. Aya senkte sofort demütig ihren Kopf und Ben hörte ihn von Schande über die Familie schreien.
Der Sicherheitsdienst erwartete ihn bereits mit einer klaren Ansage seiner Eltern und hilflos sah er Aya in einem Wagen und aus seinem Leben verschwinden. Plötzlich schien ein roter Vogel aus dem Wagen zu fliegen, erhob sich mit der Leichtigkeit eines Traums über das Wagendach und schien für einen Augenblick in der Luft zu verharren.
Ben befreite sich aus dem festen Griff der ihn gefangen hielt und rannte mit ausgestreckten Armen hinaus, während der rote Vogel plötzlich seinen Flug fortsetzte, um sanft wie eine Feder auf seiner Hand zu landen.
Seine Hand schloss sich um das nahezu flüssige Rot seines Verlustes und mit geschlossenen Augen atmete er ein letztes Mal sehnsuchtsvoll die Luft, in der ihr Atem wie ein Abschied lag.
Text: ©2021 Lotta Leigh "Der rote Schal"
Bild von Vijay Hu auf Pixabay
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